Die Wanstschrecke Polysarcus denticauda(Tettigoniidae) ist hauptsächlich im südlichen Europa zu finden – in Deutschland erreicht die Art ihre nördliche Arealgrenze mit einzelnen, isolierten Vorkommen in Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen. Die Art gilt in Bayern als extrem selten, der Freistaat Thüringen trägt für die Wanstschrecke als hochgradig isolierte Art sogar eine besondere Verantwortung für den globalen Erhalt. So gilt die Wanstschrecke auch im länderübergreifenden UNESCO-Biosphärenreservat als Zielart mit besonderer regionaler Verantwortung. Nachdem die Wanstschrecke in den vergangenen Jahren immer wieder an bisher nicht bekannten Standorten entdeckt wurde und gleichzeitig in ehemaligen Verbreitungsgebieten entlang des Grünen Bandes nicht mehr auffindbar war, wurden in 2021 und 2022 die aus den 90er Jahren bekannten Fundorte untersucht. Diese erstrecken sich entlang der bayerisch-thüringischen Landesgrenze im Bereich Lange Rhön, Vorder- und Kuppenrhön sowie Grabfeldgau. Die Untersuchungen wurden in Zusammenarbeit der Bayerischen Verwaltung des UNESCO-Biosphärenreservats Rhön mit dem Landschaftspflegeverband Thüringer Rhön e. V., der Naturschutzgroßprojekt „Thüringer Kuppenrhön“ gGmbH, der Unteren Naturschutzbehörde beim Landkreis Rhön-Grabfeld sowie dem Naturpark & Biosphärenreservat Bayerische Rhön (NBR) e. V. durchgeführt.
Ergebnis: Auf zehn der 25 Flächen entlang des Grünen Bands, auf denen die Wanstschrecke in den 1990er Jahren erfasst wurde, konnte in 2021/2022 kein Nachweis mehr erbracht werden. Gleichzeitig konnte die Art aber an neuen Standorten nachgewiesen werden. Auffällig: 52 der 79 Nachweise, auch die Neufunde, erfolgten im Grünland, das zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht gemäht war. Die Flächen, auf denen die Art nicht mehr nachgewiesen werden konnte, liegen heute auf Äckern oder waren zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits gemäht. „Das unterstreicht die Bedeutung von extensiv genutzten Wiesen als Lebensraum“, erklärt Dr. Tobias Birkwald, verantwortlich für die ökologische Forschung bei der Bayerischen Verwaltungsstelle. Die Wanstschrecke, die bis in den Juli hinein auf langgrasige Habitate angewiesen ist, ist eine von vielen weiteren Arten – darunter auch bodenbrütende Vogelarten wie Wachtelkönig, Wiesenpieper, Bekassine und Co. –, für die die Intensivierung der Grünlandwirtschaft mit früheren Schnittzeitpunkte und das „Zerschneiden“ der Lebensräume zum Verhängnis werden. Der Rückgang einer Art wiederum hat Auswirkungen auf die Nahrungskette und somit das komplette Ökosystem.
Dass die Wanstschrecke im UNESCO-Biosphärenreservat Rhön nach wie vor letzte Rückzugsräume findet, ist also zunächst eine gute Nachricht. Mit Blick auf die Intensivierung der Agrarlandschaft, die Auswirkungen des Klimawandels und der damit verbundene dramatische Rückgang von Schmetterlingen und Heuschrecken zeigt gleichzeitig aber auch, wie wichtig der Erhalt und die Vernetzung von Lebensräumen ist. Entsprechende Maßnahmen stehen bei zahlreichenden Projekten im länderübergreifenden Biosphärenreservat im Fokus.
Gut zu wissen
Wie erfasst man eigentlich Heuschrecken? Das ist gar nicht so einfach. Um die Verbreitung einer Heuschreckenart möglichst verlässlich dokumentieren zu können, braucht es für die Kartierung zunächst optimale Witterungsbedingungen: Es muss möglichst trocken und windstill sein, bestenfalls Sonnenschein. So mussten im Fall der Wanstschrecke die Untersuchungen im Jahr 2022 wiederholt werden, weil der Sommer 2021 überdurchschnittlich niederschlagsreich war. Auf die Spur der Wanstschrecke werden die Kartiererinnen und Kartierer durch das „Singen“ des Männchens gelockt. Die Position des Standortes – und wenn möglich auch die Anzahl der Tiere, wenn mehrere Rufe wahrgenommen wurden – werden per GPS oder handschriftlich aufgenommen, anschließend digitalisiert und in einem Geoinformationssystem ausgewertet. Mithilfe von Luftbildern werden die Standorte dann sogenannten Habitattypen, also Lebensraumtypen wie zum Beispiel Berg-Mähwiesen oder Borstgrasrasen, zugeordnet.